Es wird schon wieder gewagnert.
Ich gebe gerne zu, mag aber auch nicht damit kokettieren: in klassischer Musik bin ich Laie und Dilettant und kann deren Qualität exklusiv mit ihrer subjektiv empfundenen Schönheit, also ihrer Einwirkung auf mein aktuelles Gemüt interpretieren. In Ermangelung jeder musiktheoretisch sachkenntlichen Tiefe, aber angetrieben von ständiger Neugier, nähere ich mich dem Thema demnach über das Umfeld und den Mindset, die Biografie, das was den Autoren oder Komponisten, das Werk und seine Präsentation sonst noch ausmacht.
Für ein ganzheitlicheres Bild bediene ich mich sehr gerne auch der Beiträge von IOCO (IOCO community), eines erfolgreichen Multiautorenblogs, dessen ausgemachtes Ziel es ist, Menschen die „klassische Kultur“ im breiten Spektrum näherzubringen – „von Oper, Konzert, Schauspiel bis hin zu Musical, Varieté, Ausstellungen und Personalia“. Und das machen die ausgezeichnet.
Heute morgen schmökere ich noch schläfrig einen unbedingt lesenswerten, aktuellen Essay von Albrecht Schneider aus der vergangenen Woche anlässlich der 2024er Festspielsaison auf dem grünen Hügel zu Bayreuth:
„Die BAYREUTHER FESTSPIELE 2024 beginnen heute, wie erstmals 1876 auch diesem Jahr 2024 am 25. Juli. Grund genug einen Blick auf seine als weithin verschworen geltende Gemeinschaft, oder modern auch "Follower" genannt, zu werfen.“
Spannend, wie Schneider die Nummer aus professioneller Perspektive durchnimmt und mir Aspekte erschließt, die meine Aufmerksamkeit sonst niemals hätten binden können. In Summe füttert das noch meine, mit den Jahren in nahezu allen Disziplinen anwachsende Gewissheit vom „scio nescio“ - ich weiß, dass ich (gar) nichts weiß.
Und jetzt? Naja, ich kann das Werk immer noch nicht gelöst vom Meister sehen wollen. Muss ich das überhaupt? Ich meine nein, denn zum Schluss geht ja jeder mit seinen Erkenntnissen allein nach Hause. Und auch mit den persönlichen Präferenzen. Und dem Gewissen.
Das wirft mich auf meinen eigenen Beitrag vom letzten Jahr 2023 zurück und ich prüfe nach dem neuen Kraftfutter, ob der für mich immer noch so passt:
„Es wird wieder kräftig "gewagnert".
Ist man denn tatsächlich gleich ein kleinlicher Wagnerverachter oder pathologischer Wagnerhasser, nur weil man subjektiv mit seiner Musik nicht so viel anfangen kann und einem das Brimborium nicht schmeckt, man den peinlichen Elitismus der Götzendiener belächelt und einem die Strecke zwischen dem glühenden Antisemitismus des Meisters selbst und der ‚nur’ vorübergehenden, flammenden Verehrung seiner Sippe für den Gröfaz und dessen mörderischen Mummenschanz immer noch sauer aufstösst?
Jaja, ich ahne es, man muss alles im Kontext sehen und verstehen und irgendwie muss es ja auch irgendwann mal gut sein mit den ollen Kamellen, gell? Hashtag: 'Ewigkeitswert’. „Sind alle blöd, die’s nicht begreifen (wollen).“
Mit dem Neustart in Bayreuth war „Wagners Kampf gegen seelische Fremdherrschaft“ (Curt von Westernhagen, 1934) ohnehin schon ’51 wie von Zauberhand weggewischt und ersetzt durch die Antikenrezeption, um die es wohl eigentlich natürlich schon immer ging.
Im Nachgang war ja alles sowieso irgendwie ganz anders, spätestens nachdem Winifred Wagner in der Berufungsverhandlung ihres Entnazifizierungsverfahrens im Dezember 1948 von der Berufungskammer in Ansbach ganz ‚sachlich‘ als «Minderbelastete» eingestuft werden konnte: was interessiert mich mein Geschwätz von gestern.
Irgendwann hatte man sich endlich aus dem völkisch-nationalistischen Umfeld rückstandsfrei herausinterpretiert und die Werke mantraartig zu Dramatisierungen moderner Individual- und Kollektivkonflikte manifestiert: show must go on!
Sind meine paar Zeilen eigentlich schon dieses „abarbeiten“, von dem neuerdings alle immer dann sofort reflexblubbern, wenn andere Perspektiven als die eigene als manischer Fetisch, chronische Bildungsferne oder schlicht plumpe Ignoranz diskreditiert werden wollen? Zumeist von musikalischen Laien, wie ich selbst einer bin? „Sind alles F..zen außer Mutti?“
Was genau macht die Wagneradoranten eigentlich so an? Das Pompöse? Das Gewaltige? Das Ritual? Das 'Ewige'? Das erhabene Gefühl der verschworenen Gemeinschaft der „Verstehenden“? Die Nähe zu den Bedeutenden? Das Aphrodisiakische für das gesetzte Bildungsbürgertum? Das Defilee, sehen und gesehen werden am grünen Hügel?
Ratlos.“
Und? Wie jetzt? Passt das so heute noch so für mich? Ja! Tut es. Unbedingt. Im nächsten Jahr prüfe ich vielleicht wieder.
Guten Morgen.
PS: hier geht es zu Albrecht Scheiders vollständigem Essay … https://www.ioco.de/bayreuth-bayreuther-festspiele-2024-spielpan-richard-wagner-und-seine-gemeinde-ioco-essay/