Mädchenmagnet 01 und 02
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Mädchenmagnet 01
Heute hat man mir auf Facebook in meinem Newsfeed im einarmigen Reel-Zeitbanditen ein Format angerissen, das mich dann doch mal zugreifen ließ. Die Nummer wollte ich tatsächlich näher betrachten. In einem emotionalen Spannungsfeld zwischen Faszination, wie sie nicht wenige Menschen bei schlimmen Unfällen durchleben, Ratlosigkeit ob mir mein rasant fortgeschrittenes Alter eine ausgesprochene Begeisterung für die Entwicklungen in der Mode verunmöglichte und der nostalgisch melancholischen Besinnung auf die, wie in einer modernen Höhlenmalerei maltraitierten Schultische, -buecher und -hefte, näherte ich mich sukzessive der Gewissheit, eine möglichst sinnstiftende Frage jenseits aller reaktionären Ressentiments stellen zu können: was macht einen solchen Auftritt erfolgreich? Der Mann ist Sprechsänger und er bewertet in knurbelnd nörgeliger Intonation und retardierter Gestik junge Frauen, die ihm knapp beschürzt einschlägige Offerten vortragen auf Maske-Stroh-Niveau. Die wandelnde Mustertapete murmelt mir unverständliche schamanische Ghettoformeln, nimmt tatsächlich eine olfaktorische Probe wie ein testosterongepeitschter Jungrüde am Hinterteil des adorierten Bespringstücks und fällt dann öffentlich sein binäres Fallbeilurteil: hopp oder top auf Social Media, wie einst Joaquin Phoenix daumenweise als Commodus in Ridley Scotts Gladiator im Circus Maximus zu Rom. Die Hasenscharte als Gesamterscheinung. Erstaunlich, dass der sich auffällig denkträge präsentierende Ziegenpeter als Mädchenmagnet vermarktbar ist, aber wer bin ich schon, das zu bewerten. Ich denke gerade daran, mit welchen Emotionen diese Generation einst zurückblicken wird, während ich selbst die Regenbogenbrücke längst passiert haben werde, mir aber bereis heute innerlich gefestigt und nüchtern meiner zahllosen jugendlichen Entgleisungen und Sünden bar jeder gnädig entlastenden Selbstverklärung in rüstiger geistiger Verfassung voll bewusst bin.
Achja, und weil sich mancher Threadquerulant sicher nicht entblöden mag, nach dem empört gedrückten Wuticon (gelesen Wutikon in einem Rutsch), mir an dieser Freibank menschlicher Emotionen Neidgefühle aufstempeln zu wollen: nö, lasst mal stecken.
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Mädchenmagnet 01
”Nebenwirkungen.”
Liebe Susanne,
du hast mir im Kommentarstrang zu meinem Post vom wildbekritzelten, sprechsingenden Ziegenpeter und seinem bizarren Verhältnis zu seinen willfährigen Adorantinnen im Kommentarstrang eine Nachricht hinterlassen:
„Also mal ganz abgesehen, um was es hier geht....es ist jetzt ein paar Minuten nach 7 Uhr. Facebook sagt, du hast diesen Text vor 2 Stunden ins Netz gestellt....wie zur Hölle, fallen einem um 5 Uhr solche Texte zu einem Typen ein, den keine Socke kennt und noch weniger interessiert. Ich werde deine Ausführungen noch mal so gegen 11 Uhr lesen, da soll ich nach meiner Biorythmusuhr am Aufnahme fähigsten sein. In dem Sinne...schönen Wochenstart.“
Dazu möchte ich dir gerne eine Replik anbieten:
Du kannst mich nachts wecken und mir fallen solche Texte ein. Mir fallen immer solche Texte ein. Und noch ganz andere, die ich nicht immer posten sollte, wenn ich nicht augenblicklich und für alle Zeiten gesperrt werden möchte. Es ist eher so, dass ich bewusst „ausschalten“ muss, um nicht immer und immer weiter Ideen zu produzieren. Wie im „Märchen vom süßen Brei“ aus den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm an Stelle 103 (KHM 103). Nur heisst es bei mir nicht „Töpfchen, koch!“, sondern vielleicht „Textchen“ und das schmort ohnehin unentwegt. Es gibt auch kaum ein „Textchen halt!“ und wenn, dann nur für den Flügelschlag eines Kolibris.
Ob der Typ bekannt ist, oder nicht, ob er bemerkenswert ist oder uninteressant, tut mir selbst nullkommanix zur Sache. Was ihn einzig zum Sujet machte, war das zufällige Einblenden eines falschen Reels zur richtigen Zeit. Oder umgekehrt. Kismet. Wenn mich der Reelspielautomat mit anderen Filmchen adressiert hätte, wäre möglicherweise ein Beitrag über einen kuruerkrankten Kopfjäger nach dem rituellen Verzehr der feindlichen Häuptlingstochter nach ebenso ritueller Füllung im Hochland von Papua-Neuginea entstanden. Macht das einen Unterschied. Für die Frauen in beiden Geschichten allenfalls marginal.
Die frühe Uhrzeit war diesmal übrigens einem Magengrimmen geschuldet, dass mich nicht mehr schlafen lassen wollte, eine wenig erfreuliche Nebenwirkung eines Zaubermittelchens, dass ansonsten für Ruhe und Rhythmus sorgt, was im Moment sehr wichtig ist.
Neben meinem Bett liegen seit Jahren Kladden, in die ich die Impulse kritzele, von denen ich manchmal eben erwache. Früher hatte ich mal gedacht, ich könne mir das alles merken, aber das ist natürlich Quatsch. Ich lebte mit dem ständigen Gefühl, das beste regelmäßig zu vergessen, unnötigerweise zu verlieren. Dem war unbedingt zu begegnen und so begann ich mehr zu notieren. Eine der Nebenwirkungen der Sehrvielschreiberei hast du heute morgen verwundert aufgenommen und kommentiert.
Verstehe es doch einfach als eine Art Sprachgymnastik. Semantisches Yoga oder so. Verschriftlichte Befindlichkeitsspreizungen, die manchmal zwangsläufig Kollateralschäden produzieren.
Man muss mich da nicht so ernst und gar nicht wichtig nehmen. Tue ich selbst zudem auch nicht. Wer Lust hat, turnt mit. Alle anderen drehen sich um. Das wäre zumindest das Ideal. Ich arbeite daran.