Bis zur Thule.

„Ey Bruno, lass uns ein paar Schritte gehen. Bis zur Thule, hast du Lust?“, höre ich ihn noch immer sagen. Die „Thule“ ist ein Sommerhäuschen in mäßiger Entfernung und in exponierter Lage auf einer Düne über dem Strand und das einzige hier, das man an diesem Küstenabschnitt von der Seeseite aus sehen kann. Eine Landmarke. Ein Ziel.

Mein Freund Christopher und ich haben viele Sommer hier verbracht. Viele gemeinsam. Mehr als zwanzig waren es ganz sicher. Nun sind es schon vier Jahre, dass er nicht mehr lebt. Wir hatten Ideen, die Dinge zu verändern,

doch nun haben die Dinge uns verändert. Er ist viel zu früh gestorben und ja, es ist immer zu früh. Vieles hat uns eng verbunden, so auch die Liebe zur norddänischen Küste ganz besonders.

In manchen Momenten höre ich seine Stimme in meinem „geistigen Ohr“. Gibt es sowas? Im gerne sehr bewusst überhöhten Lokalkolorit unserer Heimat und immer ein paar Dezibel über der verklemmten Norm. Aufzufallen ist kein Problem, wenn man es nur selbst auch aushalten kann. Und auffallen konnten wir als Äxte im Wald und legten gerne immer noch einen drauf, um alle Toleranzen hart zu prüfen.

Das Phänomen der Stimmenerinnerungen, die als exzentrische Schleifen mal seltener auftreten und in besonderen Momenten wieder sehr präsent werden, habe ich sonst noch bei meinem Vater. Der ist nur wenige Tage später gegangen, mit dreiundachtzig Jahren, nachmittags tot umgefallen beim Rosenschneiden. Auch er ist zu früh gestorben. Wir hatten nicht allzu lange vorher wieder angefangen, miteinander zu reden. Vormittags hatten wir noch telefoniert und gelästert wie zwei alte Bahnhofsfriseusen.

Auch der war ein begeisterter Nordlandfahrer und hatte mich schon im zarten Alter von acht Monaten an die Jammerbucht expediert Irgendwann saßen wir dann hier auch mal alle drei gemeinsam beim Aalborg Aquavit, viele Jahre und Aufenthalte später. Jetzt sind beide weg und doch immer noch da.

„Du bist nicht mehr da, wo Du warst,

aber Du bist überall, wo wir sind.“

Das hat Victor Hugo gesagt und ich weiß ganz genau, was er damit meinte.

Heute stehe ich wieder am Strand zwischen Løkken und Grønhøj. Ich muss uns mal bewegen, den Bassethound und mich, ich schließe die Augen und lache die Nordsee an, die Füße im Sand und ich sage: „los Wilma, lass uns ein paar Schritte gehen. Bis zur Thule, hast du Lust?“

Bruno SchulzComment